Gruppendynamik 1999, 30, 322-327
Hinsch, R. & Wittmann, S. (1997). Auf andere zugehen. Kommunikationstraining. Berlin: Urania Verlag, 160 S., DM 19,90.
Die Trainingswelle, die – im Zusammenhang mit der Rezeption der amerikanischen angewandten Gruppendynamik in der Bundesrepublik – seit Anfang der siebziger Jahre den Fortbildungsmarkt und den einschlägigen Büchermarkt überschwemmte, ist inzwischen abgeebbt. Daß aber auch in den neunziger Jahren ein entsprechender Lernbedarf besteht, läßt sich sowohl an den Veranstaltungsverzeichnissen von Volkshochschulen, beruflichen Fortbildungseinrichtungen usw., als auch an den Ankündigungen von Veröffentlichungen ablesen.
Das Buch von Rüdiger Hinsch und Simone Wittmann gehört zu den Neuerscheinungen auf dem einschlägigen Büchermarkt. Es beruht auf einem Trainingsprogramm, das Rüdiger Hinsch zusammen mit Ulrich Pfingsten – damals wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl Psychologie I (Herbert Selg) der Universität Bamberg – Ende der siebziger Jahre entwickelten und Anfang der achtziger Jahre veröffentlichten (Hinsch & Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK), München-Wien-Baltimore: Urban und Schwarzenberg, 1983; 3. Aufl., Weinheim: Psychologie Verlags Union, 1998). Dieses Trainingsprogramm orientierte sich an einem Prozeßmodell sozial kompetenten Verhaltens, in das Konzepte und Forschungsergebnisse der Sozialpsychologie, der sozial-kognitiven Lerntheorie sowie verschiedener Ansätze der kognitiv orientierten Verhaltenstherapie eingeflossen waren (vgl. Hinsch & Pfingsten, 1983, S. 10). Es war auf 7 Sitzungen von jeweils zweieinhalb bis drei Stunden bei einer Teilnehmerzahl von 8 bis 10 Personen angelegt. Es wurde bereits Anfang der achtziger Jahre an verschiedenen Zielgruppen (sozial unsichere Erwachsene, sozial unsichere Studenten, Jugendliche, Eltern von geistig und mehrfach behinderten Kindern, Angehörige pädagogischer Berufe) evaluiert (vgl. S. 75ff.).
Rüdiger Hinsch hat dieses Trainingsprogramm viele Jahre zusammen mit Ulrich Pfingsten, später mit Simone Wittmann durchgeführt, wobei sich der Kreis der Zielgruppen auf Führungskräfte u.a. erweiterte. Die durchgehend positiven Rückmeldungen der Trainingsteilnehmer regten Pfingsten und Wittmann dazu an, das Trainingsprogramm auch denjenigen zugute kommen zu lassen, die sich nicht zur Teilnahme an einer entsprechenden Veranstaltung entschließen können oder wollen. Dabei bestand die größte Schwierigkeit darin, die Nachteile der Einwegkommunikation durch einen flüssigen, persönlich gehaltenen Text ein Stück weit auszugleichen. Dies ist den Autoren zweifellos gelungen. Daß sie das Fehlen der vielfältigen Rückkopplungsmöglichkeiten im Rahmen eines „Fremdtrainings“, das beim GSK vom Entspannungstraining über Rollenspiele mit Videofeedback bis zur Besprechung der „Hausaufgaben“ reicht, nicht kompensieren konnten, ist klar, Das Buch folgt inhaltlich dem Aufbau des GSK (vgl. S. 105ff.): Im 1. Kapitel werden die theoretischen Grundlagen des Kommunikationstrainings erläutert. Die Überschrift „Kommunikation – was ist das?“ ist allerdings irreführend, da von Kommunikation im Sinne der Kommunikationspsychologie nicht die Rede ist, auch wenn Watzlawick einmal zitiert wird (vgl. S. 14f.). Dafür wird das zugrundeliegende Modell sozialer Interaktion unter dem Gesichtspunkt der sozialen Kompetenz der Interagierenden expliziert. Dabei wird Kommunikation als Indikator erfolgreicher bzw. erfolgloser sozialer Interaktion natürlich ständig – wenn auch eher implizit – erwähnt. Explizit geht es um die in jeder sozialen Interaktion feststellbare Sequenz Situation – kognitive Bewertung – Emotion – Verhalten – Reaktion des Partners – (neue) Situation (vgl. S. 19).
In diese Darstellung streuen die Autoren kurze Aufforderungen an den Leser ein, sich über seine Lernziele („Wie möchten Sie gern werden?“) klar zu werden, sich verfestigte Einstellungen, die die kognitive Bewertung von Situationen bestimmen, bewußt zu machen und sie ein Stück weit zu verändern, insbesondere die Einstellung, daß Bestrafung der Belohnung vorzuziehen sei. Im letzten Abschnitt skizzieren die Autoren die drei Situationstypen, auf die sich das Selbsttraining schwerpunktmäßig bezieht (Recht durchsetzen, Beziehung, Sympathie gewinnen).
Im Hauptteil des Buches behandeln die Autoren nacheinander diese Situati-onstypen. In einer einleuchtenden Abfolge von allgemeinen und speziellen Situationsanalysen, Begriffsklärungen, Übungen (auch „in vivo“), Textblöcken und Instruktionen für das situationsspezifische selbstsichere Verhalten geben sie dem Leser die Chance, sich das Funktionswissen für die selbständige Analyse der Situationen des jeweiligen Typs anzueignen und die für die handelnde Bewältigung derselben erforderlichen Verhaltensweisen wenigstens ansatzweise einzuüben. Die Autoren beginnen mit Situationen vom Typ „Recht durchsetzen“, weil sie „eine ganz klare, einfache Struktur“ haben, aber für viele Menschen „Stolpersteine“ enthalten (S. 43). In diesen Situationen hat die Person einen rechtlich abgesicherten Anspruch auf eine Leistung, die von dem Partner – aus welchem Grund auch immer – nicht erfüllt worden ist und der nun durchgesetzt werden muß. Dies kann dadurch erschwert sein, daß die Person sich über die Legitimität ihrer Forderung – etwa aufgrund unzureichender Rechtskenntnisse – nicht im klaren ist und daher gegenüber dem Partner unsicher auftritt. Die von den Autoren vorgeschlagenen Regeln entsprechen der einfachen Struktur der Situationen dieses Typs (z.B. Regel 1: „Machen Sie sich klar, welches Ihre Rechte sind und was Sie erreichen wollen!“) (S. 51). Die Autoren nutzen dieses Kapitel dazu, den Leser in die kognitiven Voraussetzungen selbstsicheren Verhaltens einzuführen: In der ersten Übung soll er zwischen selbstsicherem, unsicherem und aggressivem Verhalten unterscheiden lernen, in einer zweiten Übung soll er den Unterschied zwischen negativer und positiver Selbstverbalisation und ihren Folgen für Gefühle und Verhalten erkennen und in einer dritten Übung soll er eine von sieben Situationen, bei denen es um die Inanspruchnahme eines Rechts geht, in seinem Alltag zu bewältigen versuchen und das Ergebnis in einer Art Tagebuch auswerten.
Im 3. Kapitel stehen Situationen vom Typ „Beziehungssituationen“ im Mittelpunkt. Dazu gehören Kontakte mit Lebenspartnern, Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn usw. Sie haben insofern eine komplexere Struktur als diejenigen vom Typ „Recht durchsetzen“, als hier neben dem Ziel, eine Forderung durchzusetzen, das übergeordnete Ziel steht, „die Beziehung zur anderen Person aufrechtzuerhalten oder zu verbessern“ (S. 101). Werden in diesen Situationen Interessenkonflikte nach dem Muster von Situationen vom Typ „Recht durchzusetzen“ zu lösen versucht, wird die Beziehung belastet oder im Extremfall gefährdet. Dazu können sich Menschen gezwungen sehen, wenn „rechtlich legitimierte Interessen“ vom Partner verletzt werden (S. 102). Die Autoren denken aber bei diesem Situationstyp in erster Linie an Beziehungen, bei denen derartige Belastungsproben – zumindest nicht unmittelbar – anstehen. Um den Leser zu einer konstruktiven Lösung der Spannung zwischen der Durchsetzung eigener Interessen und der Wahrung der Interessen der Beziehung zu befähigen, machen sie ihn mit den Grundeinsichten der neuen Beziehungskultur vertraut (eigene Gefühle und Bedürfnisse äußern, diejenigen des anderen verstehen, versuchen, einen Kompromiß zu finden) (vgl. S. 113). Zur Verbesserung der Fähigkeit des Lesers, Gefühle zu entschlüsseln, sowie diese selbst zu artikulieren, schlagen sie mehrere Übungen vor: Während die erste den Charakter eines Tests hat, wird bei den weiteren drei Übungen der Alltag des Lesers einbezogen: In der zweiten Übung soll er in das schon für den Situationstyp „Recht durchsetzen“ angelegte Tagebuch an jedem Abend ein Gefühl eintragen, das er am Tage gehabt hat, das auslösende Ereignis benennen und die Selbstverbalisation angeben, mit der das Erlebnis verbunden war. Die dritte Übung besteht darin, daß in der Familie jeden Abend das Spiel „Das Schönste und Blödeste“ gespielt wird, bei dem die Familienmitglieder ihre Erlebnisse am Tage austauschen sollen. Die Autoren versprechen sich davon einen Übungseffekt für den Leser wie auch für seine Kinder. Die von den Autoren erhoffte regelmäßige Durchführung dieses Spiels könnte – abgesehen davon, daß viele Leser „Singles“ sein könnten – freilich an der Überlastung vieler (Großstadt)Familien scheitern. – In der vierten Übung soll der Leser in einem Konflikt in einer/seiner Beziehung, der spontan auftritt, versuchen, die inzwischen geübten Fertigkeiten anzuwenden, um zu einer metakommunika-tiven Klärung zu gelangen. Mithilfe einiger Tests, d.h. des gedanklichen Durchspielens vorgegebener Situationen (um einen Gefallen bitten, etwas fordern, um Verständnis bitten, Kritik äußern, Entscheidungen mitteilen) soll sich der Leser auf diese „in-vivo“-Übung vorbereiten.
Die im 4. Kapitel behandelten Situationen vom Typ „Sympathie gewinnen“ erscheinen den Autoren in mancher Hinsicht am schwierigsten. Als Beispiele nennen sie die Kontaktaufnahme mit einer unbekannten, attraktiven Person und die bevorzugte Behandlung auf einem Amt, im weiteren Verlauf des Kapitels kommt als weiteres Beispiel das Verkaufen von etwas hinzu. Die Autoren führen den hohen Schwierigkeitsgrad dieser Situation darauf zurück, daß die Person „sehr flexibel auf die Situation und auf das, was der andere sagt, reagieren“ muß und daß sie „keinerlei Rechte“ auf ihrer Seite hat (S. 135). Ein Erfolg ist nur möglich, wenn die Person bei dem jeweiligen Ansprechpartner Sympathie zu wecken vermag. Die hier – durchaus auch in manipulatorischer Absicht – einsetzenden Strategien sind Lächeln, Verstärken, etwas von sich erzählen. Als Übung werden vorgeschlagen: Lächeln vor dem Spiegel und gegenüber einer unbekannten Person, z.B. in einem Bus, Anruf bei einem Bekannten, zu dem lange kein Kontakt bestanden hat und dem durch Nachfragen usw. ein besonderes Interesse gezeigt werden soll. Bezüglich der Preisgabe von Informationen über sich selbst schlagen die Autoren keine spezielle Übung vor, sondern regen lediglich an, das Ertragen von Gesprächspausen zu üben, falls einem das schwerfällt. Weitere Übungen betreffen die Gestaltung einer Situation im Alltag, die der Leser aus einer Zusammenstellung der Autoren ausgewählt hat und bei der es um Aufnahme eines Gesprächs, Grüßen von Unbekannten usw. geht. Er kann sich auch Situationen selbst ausdenken oder solche angehen, die sich zufällig ergeben. Abschließend weisen die Autoren noch einmal darauf hin, daß das wichtigste Kriterium für die Entscheidung, „welches Verhalten in welcher Situation eingesetzt werden sollte“ (S. 157), die eigenen Ziele darstellen. Dadurch, daß es in der Regel mehrere Ziele gibt und zudem noch kurzfristige und langfristige Ziele, „die sich mitunter ausschließen“ (S. 157), ist diese Entscheidung oft schwierig. Kompetentes Verhalten ist aber den Autoren zufolge dann gegeben, wenn die Person in der Lage ist, ihr Verhalten an den langfristigen Zielen auszurichten.
Am Schluß des Buches wird der Leser aufgefordert, einen Selbstsicherheitstest, den er im 2. Kapitel erstmalig ausgefüllt hat, noch einmal auszufüllen. Ich registrierte mit Genugtuung, daß sich meine Punktzahl gegenüber dem ersten Mal um 40 Punkte reduziert hatte (geringere Punktzahl = höhere Selbstsicherheit).
Das Buch von Rüdiger Hinsch und Simone Wittmann ermöglicht dem Leser zum einen eine Bestandsaufnahme der eigenen sozialen Kompetenz in Situationen, in denen die Durchsetzung eigener Forderungen oder die Erfüllung von Forderungen anderer eine Rolle spielen. Es gibt dem Leser zum anderen die Möglichkeit, sein Repertoire an entsprechenden sozialen Fertigkeiten zu erweitern. Dazu wird ihm für jeden der behandelten Situationstypen neben theoretischen Informationen, Tests und Instruktionen ein Programm aufeinander aufbauender Übungen angeboten, die vom gedanklichen Durchspielen bis zum Erproben bestimmter schwieriger Situationen in natürlichen Settings reichen. Wie ich selbst erfahren habe, gelingt es den Autoren, eine hohe Motivation zum Selbsttraining zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Ich führe das darauf zurück, daß sie den Leser einerseits – oft zu seiner Überraschung – mit genau den Situationen konfrontieren, die er bisher zu vermeiden versucht hat, weil sie bei ihm Unbehagen oder gar Angst auslösen, andererseits ihr Verständnis dafür bekunden, daß er sich scheut, sich auf diese Situationen einzulassen. Die Autoren – erfahren in Beratungs- und Therapiemethoden – warnen sogar gelegentlich davor, gleich mit den schwierigsten aus den von ihnen vorgegebenen Situationen zu beginnen (vgl. z.B. S. 148ff.). Wie stark man sogar als Rezensent, der sich – mit einigermaßen plausiblen Gründen – von den „in vivo“-Übungen dispensiert hat, von dem Aufforderungscharakter des Selbsttrainings beeinflußt werden kann, erlebte ich kürzlich, als ich in der Zeit der Lektüre des Kapitels über „Sympathie gewinnen“ mehrfach den Impuls hatte, mir unbekannte Studenten oder Studentinnen anzulächeln oder gar anzusprechen.
Zu dem Effekt hoher Beteiligung bei der Lektüre dürfte auch die anregende graphische Gestaltung des Texts – man hätte sich lediglich mehr Fotos gewünscht – und die eindringliche, klare und einfache Sprache der Autoren (auch und gerade bei den Textblöcken, in denen relevante psychologische Forschungsergebnisse bzw. Theorieansätze vorgestellt werden) beitragen.
Ist der Gesamteindruck des Buches als Anleitung zum Selbsttraining für Menschen, die ihre soziale Kompetenz verbessern wollen, also durchaus positiv, so sind gewisse Unschärfen in der Präsentation des Programms nicht zu übersehen: Nimmt man die Veröffentlichungen von Zöchbauer und Hoekstra (1974) bis Schulz von Thun (1988, 1992, 1998) zum Maßstab – auch wenn es sich bei denjenigen des Letztgenannten nicht um Kommunikationstranings i.e.S. handelt – dann ist das Buch von Hinsch und Wittmann kein Kommunikationstraining, ist doch – wie schon angedeutet wurde – der kommunkationspsychologische Gehalt relativ gering. Das Buch steht so deutlich in der Tradition der Selbstsicherheitstrainings (vgl. etwa Wendlandt & Hoefert, 1976), daß man es entweder so oder – nach dem Vorgang von Hinsch und Pfingsten (1983) – als soziales Kompetenztraining bezeichnen sollte.
Auch die Trennschärfe der Bezeichnung der drei ausgewählten Situati-onstypen ist meiner Ansicht nach nicht ausreichend: Die Bezeichnung des zweiten Situationstyps als „Beziehung“ (S. 35) oder „Beziehungssituation“ (S. 98) ist etwas diffus; manche Leser könnten damit prosoziale Situationsvarianten wie z.B. Pflege einer Beziehung, Hilfe u.ä. assoziieren. Die Autoren betonen aber – wenn ich recht sehe – die „assertiven“ Varianten wie bei den beiden anderen Situationstypen. Es wäre also besser, von Situationen vom Typ Forderungen in Beziehungen zu sprechen.
Eine gewisse Unklarheit könnte sich für den Leser auch dadurch ergeben, daß die Autoren auch bei der Erläuterung der Situationstypen „Beziehungssituationen“ und „Sympathie gewinnen“ mit dem Begriff des Rechts operieren (z.B. man habe in einer Beziehung „ein Recht darauf“, seine „Gefühle, Empfindungen und Wünsche zu äußern“, aber „kein Recht auf die Erfüllung dieser Bedürfnisse“ durch den Partner, S. 36f.). Hier werden offenbar andere Aspekte des Rechtsbegriffs angesprochen als im Situationstyp „Recht durchsetzen“. Geht es in diesem offenbar um Rechtsverhältnisse, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegt sind, so in den beiden anderen Situationstypen um Grundrechte (z.B. Artikel 2 des Grundgesetzes) oder gar um noch nicht kodifizierte Gewohnheitsrechte in (modernen) Beziehungen.
Trotz dieser Einwände werde ich gelegentlich wieder zu dem Buch greifen, um festzustellen, ab ich in bezug auf die eine oder andere (für mich) schwierige Situation Fortschritte gemacht habe.
Gerd Doerry